Mindestens zwei Millionen Einwohner Jordaniens stammen aus Palästina oder sind Kinder von arabischen Palästinensern. Durch diese Migration ist das Land direkt in den Israel-Palästina-Konflikt hineingezogen worden. Außerdem war das Westjordanland (Westbank) von 1948 bis 1967 unter jordanischer Besetzung. Während dieser Zeit waren die Palästinenser der Westbank Staatsbürger Jordaniens. Seit 1967 ist die Westbank von Israel besetzt, Teile sind zu palästinensischen Autonomiegebieten erklärt worden. Bis heute sind viele Probleme ungelöst geblieben.
Jordanien – Israel – Palästina: Diese Dreiheit steht für eine lange historische, politische und kulturelle Kontroverse. Die dreiteilige Trennung der Region ist ein Phänomen der jüngeren Geschichte . Davor hat es sowas nie gegeben. „Israel“ und „Palästina“ waren über mehr als zweitausend Jahre nur zwei Namen ein und derselben Region. Die Namen repräsentieren lediglich unterschiedliche kulturelle Blickwinkel auf das Land. Die aktuelle Trennung von Israel und Palästina ist ein politisches Konstrukt, dessen Grundidee auf den UN-Teilungsplan von 1947 zurückgeht.
Jordanien galt in historischen Zeiten immer als „Transjordanien“, weil es jenseits des Jordan liegt – von Palästina aus gesehen. Es war sozusagen traditionell das Hinterland Palästinas. Eine andere Bezeichnung für Jordanien ist Ostjordanland, weil es östlich des Jordan liegt.
Nach dem ersten israelisch-arabischen Krieg von 1948 war das Westjordanland inklusive Ostjerusalem unter jordanische Besetzung geraten. Die Palästinenser im Westjordanland waren sozusagen zu Jordaniern geworden. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 fiel das Gebiet an Israel. Nun gilt das Westjordanland zusammen mit dem Gaza-Streifen als „Palästina“.
Nach der Besetzung des Westjordanlandes durch Israel war das eigentliche Jordanien der Hauptzufluchtsort der Westbank-Palästinenser geworden. Die meisten siedelten sich im Raum der Hauptstadt Amman oder in der Nähe der Jordangrenze an.
Der „Schwarze September 1970“ und der sogenannte jordanische Bürgerkrieg von 1970/1971
Während der Zeit der jordanischen Besetzung des Westjordanlandes von 1948 bis 1967 galten die Regierung Jordaniens und das jordanische Königshaus aus Schutzmacht der Palästinenser. Die Palästinenser waren sozusagen Untertanen des jordanischen Königs geworden – sie galten quasi als Jordanier. Doch mit dem Verlust des Westjordanlandes an Israel hatte Jordanien diese Funktion verloren. Der Sechstagekrieg 1967 war nach der Gründung Israels und dem ersten israelisch-arabischen Krieg von 1948 der zweite große Auslöser einer palästinensischen Auswanderungswelle nach Jordanien.
Jordanien hatte in seinem Verhältnis zu Israel jedoch nicht nur die Forderungen der Palästinenser im Sinn, sondern vertrat als souveräner Staat eigene Interessen im diplomatischen Spiel der nahöstlichen Mächte. Israel hatte 1948, 1956 und 1967 bewiesen, dass es militärisch haushoch überlegen war. Außerdem standen die Westmächte wie Großbritannien, Frankreich und die USA hinter Israel. Also musste der damalige jordanische König Hussein eine neue diplomatische Strategie entwickeln, die nicht auf direkte Konfrontation mit Israel hinauslief.
Diese Entwicklungen hatten unter den Palästinensern sowohl in der Westbank als auch in Jordanien selbst erhebliche Frustration zur Folge. Denn sie wünschten sich ein offensiveres Vorgehen Jordaniens gegen Israel. Ihre große Furcht: Jordanien könnte sich auf ein Abkommen mit Israel einigen, dass zuungunsten der Palästinenser ausfiel.
Besonders die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ („Palestine Liberation Organisation“ – PLO) drängte auf eine Konfrontation mit Israel. Auch die vielen Unter- und Splittergruppen der PLO sowie die Fatah-Bewegung wollten härter gegen Israel vorgehen. Die Niederlage von 1967 steckte ihnen tief in den Knochen. Auch nach 1967 versuchten palästinensische Freischärler immer wieder Anschläge auf israelische Grenztruppen zu unternehmen. Israel antworte stets mit schnellen Gegenattacken. 1968 war die Lage an der Grenze eskaliert, als es beim Grenzort Karame zu einer regelrechten militärischen Schlacht zwischen Palästinensern der Fatah-Bewegung und israelischen Sicherheitskräften gekommen war. Der jordanischen Regierung wurde klar, dass die unkontrollierbaren Palästinensergruppen mit ihren Aktivitäten auf Dauer eine Gefahr für die Stabilität Jordaniens werden könnten – auch wenn sich an dieser Begegnung jordanische Sicherheitskräfte auf der Seite der Palästinenser beteiligten. Mehrere hundert Menschen waren bei diesem Ereignis ums Leben gekommen.
Da die Palästinenser fast die Hälfte der jordanischen Bevölkerung ausmachten und die PLO rund hunderttausend paramilitärische Kämpfer in Jordanien hatten, stellte die PLO durchaus ein Machtfaktor innerhalb Jordaniens dar. Es kam zum Machtkampf zwischen PLO und jordanischer Regierung. Die Köpfe dieser Konfrontation waren auf der einen Seite PLO-Chef Jassir Arafat (geb. 1929, gest. 2004) und auf der anderen Seite Jordaniens König Hussein (geb. 1935, gest. 1999).
Im Gegensatz zur jordanischen Regierung konnten die Palästinenser niemals mit einer Stimme sprechen, weil ihre Vertreter in mehrere Organisationen und Splittergruppen zerrissen waren. Arafat hatte niemals die ungeteilte Gesamtheit aller Palästinenser hinter sich. Alle Gruppen – von der PLO mit ihren Untergruppen bis hin zur Fatah-Bewegung – hatten unterschiedliche Vorstellungen zu den politischen Zielen, unterschiedliche Strategien und Taktiken. Es war ein Chaos. Nur wenn es darum ging, über Israel zu fluchen und die Rückkehr nach Palästina zu fordern, waren sie sich in ihrer Grundstimmung zeitweise einig. Dies waren die Momente der großen Proteste, in denen Tausende von Palästinensern ihren Forderungen lautstark Ausdruck verliehen. In solchen Momenten war Arafat der prominenteste Anführer, der am ehesten für die Gesamtheit der Palästinenser sprechen konnte.
Für die jordanische Regierung war es kritisch geworden. Zum einen benahmen sich die rund hunderttausend palästinensischen Kämpfer wie eine unabhängige Armee, die nicht den Anordnungen des jordanischen Militärs Folge leisten wollte. Zum andere zogen die Palästinenser bewaffnet kreuz und quer durch Jordanien, von den palästinensischen Flüchtlingslagern bis hinein in die jordanische Hauptstadt Amman, um ihre Macht zu demonstrieren. Einige Gruppen forderten Schutzgeld von den Jordaniern. Und schließlich kamen die selbständigen Operationen gegen Israel hinzu, die nicht mit der jordanischen Führung abgesprochen waren. Für die jordanischen Politiker und Militärs rund um König Hussein war klar, dass es früher oder später zu einer Konfrontation und zu einem Machtkampf in Jordanien kommen würde.
Nachdem sich 1970 eine palästinensische Splittergruppe mit den jordanischen Sicherheitskräften ein Feuergefecht geliefert hatte, war die jordanische Führung gezwungen durchzugreifen. Sie verbot das öffentliche Tragen von Waffen und startete Versuche, Kampfgruppen der PLO zu entwaffnen. Die Palästinenser wehrten sich und organisierten landesweite Proteste. Schließlich kam es zum Attentatsversuch auf den jordanischen König Hussein. Am 1. September 1970 war es die palästinensische Splittergruppe „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“, die den König zu töten versuchte. Der Anschlag schlug fehl. König Hussein musste nun handeln.
Mit Unterstützung von jordanischen Beduinen-Einheiten rückten die jordanischen Truppen in die von Palästinensern dominierten Stadtviertel und Flüchtlingslager von Amman vor. Dort setzten sie auch Panzer und schwere Artillerie ein.
Arafat und Hussein sahen schnell die Gefährlichkeit der Lage ein und trafen sich zu einer Beilegung der Auseinandersetzung. Doch verschiedene kleinere palästinensische Splittergruppen wollten den Kampf fortsetzen. Sie verübten Terroranschläge und nahmen Geiseln. So setzte sich die Krise fort.
Sie eskalierte mit der Entführung von fünf internationalen Flugzeugen (am 7. und 9. September), mit der die palästinensischen Geiselnehmer die jordanische Führung erpressen wollten. Gleichzeitig kam es erneut zu Feuergefechten zwischen palästinensischen Splittergruppen und jordanischen Truppen. Schließlich musste König Hussein das Kriegsrecht verhängen. Die jordanische Arme hatte nun freie Hand, gegen die Palästinenser vorzugehen.
Das Vorgehen war nicht einfach, denn die Palästinenser waren in ihren Stadtvierteln, Ghettos und Flüchtlingslagern verschanzt. Es kam zu Straßengefechten und Häuserkämpfen. Da in der jordanischen Armee viele Palästinenser dienten, gab es zahlreiche Überläufer.
Der Konflikt entwickelte sich noch innerhalb des Septembers zu einer internationalen Krise. Der syrische Präsident Hafiz al-Assad entschied sich am 18. September, auf der Seite der Palästinenser in den Konflikt einzugreifen. Innerhalb weniger Tage rückten syrische Armeeeinheiten in den Nordwesten Jordaniens ein. Darunter waren auch schwer bewaffnete Panzertruppen. Die syrische Armee wurde von syrisch-palästinensischen PLO-Einheiten unterstützt, die ihren Sitz in Damaskus hatten.
König Hussein von Jordanien war nun in der Klemme. Im eigenen Land rebellierten rund hunderttausend palästinensische Kämpfer. Von Norden her stießen die Syrer vor. Daraufhin entsandte er die jordanische Luftwaffe, um die vorrückenden Syrer zu stoppen. Gleichzeitig sendete er einen Hilferuf an die USA und Großbritannien. Israel drohte – auf Empfehlung von US-Präsident Richard Nixon und dessen Außenminister Henry Kissinger – mit Luftschlägen gegen Syrien, falls Syrien dessen Luftwaffe über Jordanien einsetzen sollte.
Die anhaltenden Luftschläge der jordanischen Luftwaffe auf die vorrückenden syrischen Truppen und die internationale Ausweitung der Krise haben schließlich Syrien dazu bewegt, sein Vorhaben zu stoppen. Ab dem 22. September begannen die syrischen Armeeeinheiten sich aus Jordanien wieder zurückzuziehen. Dies hatte große Enttäuschung unter den Palästinensern ausgelöst.
Am 27. September unterzeichneten Jassir Arafat und König Hussein in Kairo unter dem Druck von Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser eine Waffenruhe. Eigentlich war dies eine Demütigung der jordanischen Regierung, da dieses Abkommen auf Druck vieler anderer arabischer Staatschefs zustande kam. Dennoch war es ein richtiger Schritt, nach einem Kompromiss und schnellem offiziellen Ende des Konfliktes zu suchen. Denn eine Ausweitung hätte zu einem wirklichen Bürgerkrieg in Jordanien führen können. Noch schlimmer: Es hätte zu einem weiteren Nahostkrieg ausufern können. Denn sowohl die USA als auch Großbritannien hatten bereits Flottenverbände an die israelische Küste verlegt. Außerdem hatte der Iran die PLO mit militärischen Einheiten unterstützt.
Am 31. Oktober 1970 unterzeichnete Jassir Arafat noch eine weitere Erklärung, in welcher er die volle Souveränität der jordanischen Regierung über das Land wieder anerkannte. Außerdem wurde mit dieser Erklärung allen Palästinensern verboten, offen mit Waffen herumzulaufen. Doch einige Untergruppen der PLO weigerten sich, diese Erklärung anzuerkennen. Und so setzten sich einigen Flüchtlingslagern und Stadtvierteln von Amman die Kämpfe noch bis zum Sommer 1971 fort. Dann endlich hatte König Hussein wieder die Kontrolle über sein Land.
Die Folgen dieser Ereignisse waren massiv. Viele PLO-Kämpfer und mit ihnen nahezu die gesamte Führungsriege flohen nach Syrien und in den Libanon. Seitdem operierten viele Palästinenserorganisationen hauptsächlich von dort, was schließlich zur Eskalation des Libanon-Krieges beitrug.
Die Situation der Palästinenser in Jordanien heute
Obwohl die politischen und paramilitärischen Gruppen der Palästinenser nach Syrien und in den Libanon verlegt wurden, blieben die meisten Palästinenser, die in den Jahren 1948 bis 1967 nach Jordanien geflohen waren, dort. Mit Hinblick auf die zeitweise Oberhoheit Jordaniens über das Westjordanland und auf den großen Bevölkerungsanteil der Palästinenser an der jordanischen Bevölkerung, fuhr die Regierung eine Politik der Integration. Alles wurde versucht, um die Palästinenser als neue jordanische Staatsbürger zu integrieren. Damit unterschied sich die Politik in Jordanien deutlich von jener in Syrien und im Libanon, wo Palästinenser oftmals immer noch wie Ausländer behandelt werden.
Inzwischen sind die Palästinenser schon in der zweiten und dritten Generation im Lande. Viele Kinder und Enkelkinder sind in Jordanien geboren worden. Da ohnehin die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen Jordaniern und Palästinensern größer sind als die Unterschiede, konnte sich bis heute eine Tendenz entwickeln, die dazu führte, dass viele Palästinenser sich heute als Jordanier fühlen. Die Regierung unterscheidet in der Regel offiziell nicht mehr zwischen Jordaniern mit oder ohne palästinensischen Migrationshintergrund. Daher gibt es auch keine genauen Zahlenangaben zum Anteil der Palästinenser an der jordanischen Bevölkerung. Man kann jedoch realistisch schätzen, dass mindestens zwei Millionen Jordanier palästinensische Wurzeln haben.
Dennoch werden immer wieder alte Wunden aufgerissen. Wann immer es zu Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern in Gaza, im Westjordanland oder an der Grenze zum Libanon kommt, kochen auch in Jordanien die Emotionen hoch. Es gibt noch immer viele familiäre Bindungen zwischen den Palästinensern im Westjordanland und den „Neu-Jordaniern“. Dies ist der Grund, weshalb Jordanien stets bemüht ist, einen neutralen und möglich konfliktmeidenden außenpolitischen Kurs zu fahren. Dieser diplomatische Eiertanz mag vielen als inkonsequent erscheinen. Doch er hat dazu geführt, dass Jordanien trotz des hohen Migrantenanteils eines der politisch stabilsten Länder des Nahen Ostens ist.
Mit dem Beginn des Bürgerkrieges in Syrien sind rund eine Million Syrer nach Jordanien geflohen. Die herausragende Frage jordanischer Politik ist nun, wie es gelingt, die Syrer ebenso gut zu integrieren, wie es mit den Palästinensern geklappt hat – oder ob die Syrer im Gegensatz zu den Palästinensern nur temporär geduldet werden. Die endgültige Richtung wird wohl davon abhängen, wie lange der Krieg in Syrien andauern wird.