Während die meisten Jordanier ein relativ westlich-orientiertes modernes Leben führen, findet man bei den Beduinen, den Oasenbewohnern und in manchen Stadtvierteln noch Relikte alter Traditionen, die an die jahrtausendealte Kultur und Alltagswelt erinnern. Die Familie hat noch einen anderen Stellenwert als bei uns: Sie steht im Zentrum des Lebens und der Gesellschaft.
Bevor man die arabische Alltagskultur in Jordanien beschreibt, muss man zunächst ein paar Dinge klarstellen. Die meisten Jordanier, die man heutzutage in Amman oder anderen großen Städten und Orten antrifft, haben nahezu ebenso moderne Vorstellungen vom Leben wie die Menschen bei uns. Sie wollen eine gute Ausbildung, einen guten Job, eine Familie Gründen und sich eine schöne Wohnung und schnelles Auto leisten können. Die jungen Leute spielen tagsüber mit ihrem Smartphone und surfen abends ebenso oft im Internet wie ihre europäischen Altersgenossen. Die antiquierten Vorstellungen vom Orient, wie sie uns der Orientalismus vorgestellt hat, findet man zumindest in den Städten kaum – und in den Städten lebt mit Abstand die Mehrzahl der Jordanier. Das, was die Jordanier von uns Mitteleuropäern unterscheidet, ist vor allem die Rolle des Islam und die Bedeutung der Familie. Hierzu sind wir näher im Kapitel zur Rolle des Islam (Kapitel: Moschee und Koran – Die religiöse Welt des Islam) eingegangen.
Insofern greifen alle Charakterisierungen der jordanischen Alltagskultur auf jene Traditionen zurück, die zwar zum Teil noch gelebt werden, zum größeren Teil jedoch ein Relikt der Vergangenheit sind. Wer etwas typisch Jordanisches sucht, muss dementsprechend die Nischen genauer unter die Lupe nehmen, in denen die Vergangenheit wie die Momentaufnahme einer Zeitreise aufblitzt und einen Einblick in die jahrtausendealte Kultur gibt. Drei Orte eignen sich besonders, um einen authentischen Einblick in die Traditionen zu bekommen. Zum einen sind es die traditionell lebenden Beduinen, zum anderen die wenigen Oasenbauern und schließlich noch einige Handwerker und Händler in den Bazaren.
Diese drei Orte spiegeln den Dreiklang der alten orientalischen Kultur wider. Die Beduinen (von arabisch „Bedawi“, Nomaden) der Wüste und Steppe, die Bauern (Fellahin) der Oasen und die Städter in der Medina. Alle drei Gruppen folgten einem unterschiedlichen Lebensstil, hatten jeweils ihre eigenen Gepflogenheiten und vor allem ihren eigenen Jahressrhythmus. Die Beduinen richteten sich nach den saisonalen Wanderouten, um die Tiere an den jahreszeitlich günstigsten Stellen weiden zu lassen. Die Bauern mussten sich an die Zeiten für Aussaat und Ernte halten. Die Städter dagegen waren stets das ganze Jahr über mit Handel und Handwerk beschäftigt.
Die Beduinen sind wandernde Viehzüchter. Man spricht vom pastoralen Nomadismus, von Hirtennomaden. Typische Tiere der Beduinen sind Kamele (Camelus Dromedarius), Ziegen und Schafe. Das Kleinvieh wird im Nahen Osten schon seit mindestens siebentausend Jahren gezüchtet. Kamele wurden vor rund viertausend Jahren auf der arabischen Halbinsel domestiziert. Seit dem ersten Jahrtausend vor Christus gibt es sie auch im Raum der Levante. Die Tradition der Viehzucht ist also sehr alt. Beduinen besetzen eine bestimme sozio-ökonomische Nische. Sie bewirtschaften die Randgebiete der Wüste, die sonst für den Menschen nicht nutzbar sind. Denn jahreszeitlich bedingt gibt es an den Wüstenrandgebieten ausreichend Regen, um die Einöde für wenige Wochen ergrünen zu lassen. Viele Beduinen leben in einer wirtschaftlichen Symbiose mit den Bauern der Oasen, indem sie miteinander Handel treiben und Vieh gegen landwirtschaftliche Produkte (Datteln, Gemüse, Mehl fürs Brotbacken) handeln. Während Ziegen hauptsächlich ihrer Milch und Schafe wegen ihrer Wolle gehalten werden, so sind insbesondere die Dromedare die wirtschaftlich ertragreichsten Tiere, weil sie als wertvolle Reit- und Transporttiere teuer gehandelt werden. Geschlachtet werden die Tiere selten. Wenn zu Festanlässen Fleisch serviert werden soll, schlachtet man eher das Kleinvieh.
Während die Bauern mit ihrer Landgut, ihrem Dorf und ihrer Provinz verbunden sind und in historischer Zeit an die Gebote des Gutsherrn gebunden waren, haben die Beduinen ein ausgeprägtes Stammesbewusstsein entwickelt. Nicht die Heimatverbundenheit, sondern die Stammeszugehörigkeit und die Stammbäume der Vorfahren sind das Gerüst des Zusammenhalts. Das ergibt Sinn, da Beduinenstämme im Laufe der Jahrhunderte oft weite Strecken zurückgelegt haben. Viele Beduinenstämme in der heutigen Levante oder im Irak hatten einst ihre Vorfahren in Zentralarabien oder im Jemen. Die Stämme und Familien sind streng patriarchalisch hierarchisiert. Die Scheichs bestimmen den Weg des Stammes. Kleiderordnungen, Sitzordnungen, Anordnungen der Zelte und das Verhältnis von Männern zu Frauen sind klar geregelt. Beduinen gelten hinsichtlich der Einhaltung islamischer Sitten und Gebräuche strenger als die Städte oder Bauern. Dies zeigt sich unter anderen auch daran, dass viele orthodoxe Formen des Islam (z.B. Salafismus) aus dem beduinischen Innern der arabischen Halbinsel kommen.
Heute sind die in Jordanien lebenden Beduinen ein Relikt der Vergangenheit. Nur die wenigsten leben noch ausschließlich von der Viehzucht oder dem Karawanenhandel. Stattdessen haben die Beduinen Jordaniens im Tourismus eine gute Nebenerwerbsquelle gefunden. Die Reisegäste aus aller Welt würdigen die Gastfreundschaft und das gute Essen der Beduinen. Die Beduinen dienen als Fremdenführer in der Wüste und bieten Kameltouren durch das Wadi Rum an. An die kriegerische Vergangenheit der Beduinen erinnern nur noch einige Utensilien wie etwa die Schmuckdolche am Gürtel.
Fellachen (Fallahin, Bauern) gibt es in Jordanien vor allem im Jordantal und in den Oasen. Sie gehören zum autochthonen Teil der Bevölkerung. Denn nur die wenigsten Zuwanderer haben sich als Bauern niedergelassen. Im Zuge der landwirtschaftlichen Modernisierungen haben sich die Anbaumethoden und auch der Lebensstil der Bauern in Jordanien stark verändert. Die Landwirtschaft wirkt in vielen Teilen moderner als etwa der Fellachen in Ägypten.
Wer in der Stadt die alten Traditionen sucht, muss in der Medina anfangen, der Altstadt im Herzen des Ortes. Hier findet man die alten Moscheen, die Freitagsmoschee, die Koranschulen, die Bäder (Hammam), Bazare (Souks), Märkte und Kaffeehäuser. Abgesehen davon, dass in den Moscheen und Koranschulen die Religionnach alter Tradition geehrt wird und die Gebete in ihrem Ablauf seit Jahrhundert gleich sind und auch in den Koranschulen nach traditioneller Art gelehrt und gelernt wird, ist das säkulare Leben auch den Medinas schon stark modernen Lebensgewohnheiten angepasst. Zwar gibt es noch nach wie vor die alten Männer, die mit ihrer Schischa (Wasserpfeife) in den Kaffee- und Teehäusern sitzen. Doch die strengen Regeln, nach denen das Leben in den Straßen, Gassen und Stadtvierteln organisiert ist, gibt es fast nicht mehr. Die Bazare haben mittlerweile stark folkloristischen Charakter und haben sich mit ihren Souvenirshops dem Tourismus angepasst. Spannend ist es, in traditionellen Backstuben den Bäckern bei der Arbeit zuzusehen oder alten Kunstschmieden über die Schulter zu gucken.
Egal ob bei den Beduinen, Fellachen oder den Städtern, die Familie spielt immer eine herausragende Rolle. Dies ist der entscheidende Punkt im Unterschied zwischen Europäern und Arabern. Nicht das Individuum im Kleinen oder die Nation im Großen steht im Vordergrund, sondern die Familie, der Clan, die Sippe, die Großfamilie. Die Menschen im Nahen und Mittleren Osten definieren sich viel stärker über ihre Position in der Familie, ob sie verheiratet sind und Kinder haben, wenn ja, wie viele, etc. Dabei spielt nach patriarchalischer Tradition vor allem die familiäre Linie des Vaters eine entscheidende Rolle. Ein junger Mann definiert seine Zugehörigkeit immer zur Familie des Vaters, nicht zu jener der Mutter. Während modern eingestellte Jordanier nach der Eheschließung wie in Europa in eine neue Wohnung ziehen und einen neuen Haushalt beginnen, bleiben traditionell eingestellte Jordanier zunächst im Haushalt oder zumindest in räumlicher Nähe zur väterlichen Familie. So bleiben die Brüder zusammen bei ihrem Vater, die Töchter werden nach der Ehe von ihren Schwestern, Brüdern und ihren Eltern getrennt. Diese Tradition zeigt sich insbesondere noch bei den Beduinen und auf den Dörfern. In der Stadt löst sich diese Tradition langsam auf. In traditionellen Familien ist immer noch die Ehe zwischen Cousin und Cousine weit verbreitet. Innerhalb der Großfamilie ist die Autorität des Familienvaters nach wie vor Standard. Die Ehen werden in Jordanien in der Regel früher geschlossen als in Europa. Viele Mütter sind bei der Geburt ihres ersten Kindes noch Teenager. Kinderreichtum ist erwünscht. Doch in der Stadt belässt man es meist bei zwei bis drei Kindern. Bei den Beduinen und Bauern sind fünf bis sieben Kinder keine Seltenheit. Die Sexualität ist nach wie vor stark reglementiert. Sex vor der Ehe gilt immer noch als Tabu. Die Reinheit der Braut vor der Ehe und ihre Treue in der Ehe sind eng mit der Familienehre verknüpft. Die Verschleierung der Frau wird in Jordanien flexibel gehandhabt. Bei den Beduinen ist man strenger, bei den Bauern waren die Frauen traditionell zumeist nicht verschleiert. Bei den heutigen Jugendlichen in der Stadt sind zwei entgegengesetzte Tendenzen zu erkennen. Einerseits gibt es jene jungen Jordanier, die nach westlichen Idealen streben. Hier zeigt sich der Unterschied besonders in der Freizügigkeit der Frau, die im Alltag mit westlicher Kleidung herumläuft. Andererseits gibt es die orthodoxe Renaissance der Salafisten. Hier sind es ebenfalls gerade die jungen Leute, die sich an alten strengen islamischen Regeln orientieren. So sieht man vollverschleierte Frauen, die sogar ihre Gesicht verhüllen und Handschuhe tragen. Was die Kleidung der Männer angeht, so tragen fast alle normale westliche Kleidung. Nur die Beduinen tragen noch ihre traditionellen Gewänder mit ihrem charakteristischen Kopftuch, dem Mandil.
In den Bazaren wird der Reisen de immer wieder auf die traditionellen Ideen des Verhandelns treffen. Der Kauf und Verkauf eines Produktes ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer Akt. Das Feilschen gehört dazu. Wenn dem Händler die Kunden sympathisch sind, wird er sie gegebenenfalls zum Tee einladen. Komplimente und Scherze gehören dazu. Man darf sich nicht wundern, wenn die Händler in den Bazaren sich auch despektierlich über die Touristen äußern. Das liegt an der oft zu erkennenden Unsicherheit, die Europäer im Bazar zeigen. Für die Einheimischen ist das sehr unterhaltsam. Familien finden in der Regel sehr viel schneller Anschluss und Kontakte als Einzelreisende. Dann hat man gleich ein Gesprächsthema (Name und Alter der Kinder). Kinderlärm wird in Jordanien anders aufgenommen als in Europa. Kinder bedeuten Leben. Und Leben bedeutet Freude.