Wie in jeder religiösen Vorstellung, so glaubten auch die Ägypter an göttliche Kräfte und Ordnungsprinzipien, die die Welt zusammenhalten. Die Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung war ein zentraler Gedanke der altägyptischen Religion. Für die Ägypter war die kosmische Ordnung mit der sozialen Ordnung eng verknüpft.
Ma’at – so heißt das ägyptische Ordnungsprinzip des Kosmos. Die Ma’at ist auch eine Göttin, die mit einer Feder symbolisiert wird. Sie wirkt überall dort, wo die Harmonie der Natur und die Ordnung der Gesellschaft verwirklicht werden, wo die Menschen im Einverhältnis mit ihren Göttern leben und die religiösen Vorschriften und Opfergaben eingehalten werden. Die Bedeutung des Namens leitet sich vom ägyptischen Tätigkeitswort "ma’a" ab, das soviel wie "lenken, richten, ausrichten, den Dingen eine Richtung geben“ oder auch im übertragenen Sinne "darbringen, opfern" bedeutet. Die Ma’at ist also eine göttlich personifizierte Darstellung des "korrekten Richtungssinns". Sie gibt dem Weltgeschehen die richtige Richtung, das korrekte Maß, die ausbalancierte Harmonie. Im sozialen Kontext übersetzt man die Ma’at behelfsweise mit "Wahrheit, Gerechtigkeit, (soziale) Ordnung", im kosmologischen Kontext mit "Weltordnung". Allerdings ist keine dieser Übersetzungen adäquat, um den Begriff in seiner Bedeutungstiefe wiederzugeben. Die Ma’at ist eigentlich ein unübersetzbarer Zentralbegriff der ägyptischen Kultur, Philosophie und Religion, und zwar im holistischen, d.h. ganzheitlichen Sinne, vergleichbar mit dem chinesischen Zentralprinzip des Ying-Yang. Das Gegenteil der Ma’at ist das Chaos (ägyptisch: "Isfet"). Wird die Ma’at verletzt oder vernachlässigt, tritt Isfet an ihre Stelle und der gesellschaftlichen Zusammenhalt oder die kosmische Ordnung ist zerstört oder gefährdet.
Die Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung war ein zentraler Gedanke der altägyptischen Religion. Denn je regelmäßiger und unvorhersagbarer der natürliche Rhythmus der Natur und des Kosmos ist, desto weniger wurde das Unvorhersagbare gefürchtet. Nur regelmäßige Überschwemmungen des Nils ermöglichten eine reiche Ernte. Um die Aufrechterhaltung der Ma’at zu stützen, war es notwendig, dass alle guten kosmischen Kräfte der Götter gegen die zerstörerischen Kräfte die Oberhand behalten, dass zum Beispiel der Sonnengott auf seinem Weg durch die Unterwelt nicht aufgehalten wird, dass die Götter die Regeneration der Schöpfung fortführen und dass die Götterwelt den Menschen gut gesonnen ist. Die alten Ägypter glaubten, die korrekte In-Gang-Haltung der Welt mit ihrem Naturgeschehen durch Opfergaben an die Götter und Tempelbauten stützen zu können. Pharao war für die Instandhaltung der Ma’at verantwortlich. Es gibt zahlreiche Abbildungen, die zeigen, wie der König symbolisch den Göttern die Ma’at (in Form einer kleinen Göttin oder Feder) darreicht. Durch Förderung der Tempelkulte sorgte er dafür, dass ihnen regelmäßig Opfergaben zuteil und sie somit besänftig wurden.
Was für die Natur gilt, gilt auch für die Gesellschaft. Im alten Ägypten wurde für den sozialen Zusammenhalt der Menschen eine ganz bestimmte, zum Teil streng hierarchisch gegliederte, Gesellschaftsordnung propagiert. Grundsatz dieser Gesellschaftsordnung war das Prinzip der Verantwortung für die Untergebenen sowie der Loyalität gegenüber den Übergeordneten und Vorgesetzten. Eine hohe gesellschaftliche Position durfte also nicht nur auf Abstammung oder Leistung beruhen, sondern musste auch moralisch gerechtfertigt sein. Die ägyptischen Texte erwähnen in diesem Kontext häufig die Bedeutung des "Hörens". Richter werden als "Hörende" bezeichnet, und Verwalter sind dazu verpflichtet, ein "offenes Ohr" für die Belange der Untergebenen zu haben. Daher waren nahezu alle hohen Amtsträger, insbesondere ab dem Mittleren Reich, bestrebt, sich in ihren Grabbiographien, Inschriften und sonstigen Selbstthematisierungen als "gerechten Menschen" darzustellen, der sich um die Armen und Bedürftigen gekümmert und um die Rechtsprechung bemüht hat. Wer sich dagegen als Amtsträger seiner Verantwortung gegenüber den Untergebenen nicht genug bewusst und moralisch fahrlässig im gesellschaftlichen Umgang war, verletzte die Ma’at. Hierbei spielt auch der zeitliche Aspekt eine große Rolle. Wahrhaftiges und gerechtes Handeln musste nicht immer zeitnah vergolten werden. Aber wer sich durch Taten und Worte im Gedächtnis seiner Mitmenschen verankert hat, dem wurde ein Ma’at-gerechtes Leben attestiert und für würdig erachtet, dass man ihn besonders ehrt und wertschätzt. Hohe und mächtige Amtsträger mit Landgütern und Pfründen durften unter bestimmten Umständen oft nur dann ihren Landbesitz und ihre Nutzungsrechte an ihre Nachkommen weitervererben, wenn dem Katasteramt oder dem Wesirat (Kanzleramt) keine Beschwerden über Amtsmissbrauch vorlagen. So wurde, zumindest offiziell, der Akkumulation des Reichtums in den Händen weniger reicher Familien ein moralischer Riegel vorgeschoben, welcher der Korruption und der Herrschaftswillkür in der gesellschaftlichen Elite Einhalt gebieten sollte. Eine andere Ermahnung zum Ma’at-gerechten Handeln lag im religiösen Glauben an das Totengericht. Die alten Ägypter glaubten, wie heute z.B. die Christen, dass über die Toten Gericht gehalten würde, und nur diejenigen, denen man keine Verletzungen der Ma’at vorwerfen und ein moralisch einwandfreies Leben bescheinigen kann, am ewigen Leben im Jenseitsreich des Osiris teilhaben dürfen. Alle Sünder werden nach ägyptischen Vorstellungen mit dem ewigen Tod, bzw. dem Nichtsein bestraft. Kurzum folgt auf jede Tat, gut oder böse, früher oder später eine Konsequenz, eine ausgleichende Gerechtigkeit, wenn man so will.
Ein anderer Begriff, der den sozialen Aspekt der Ma’at passend näher kommt, ist die Tugend (ägyptisch: neferu). Für die alten Ägypter gab es viele Tugenden, die in Weisheitstexten den Schülern gelehrt wurden. Diese Tugenden geben dem moralisch wertvollen Leben den Richtungssinn. Zu diesen Tugenden gehört es, sensibel für die Belange Anderer zu sein, sich selbst zurückzunehmen, bescheiden zu sein, seine Worte abzuwägen, sich an die guten Taten der Mitmenschen zu erinnern und diese bei Gelegenheit zu vergelten. Auch gehört dazu, der Verstorbenen zu gedenken und Opfer zu spenden. Nach ägyptischem Wortbrauch legt man diese Tugenden und Werte in "sein Herz". Das Herz, so glaubten die Ägypter, war der Ort des Denkens. Wer die Ma’at in sein Herz gibt und darnach handelt, ist ein gerechter Mensch.
Die Ma’at-Funktion Pharaos, als Spitze der Gesellschaft und Bindeglied zur Götterwelt, war, um es zusammenzufassen, die kosmische Ordnung durch Tempelkult und Opfergaben und die soziale Ordnung durch Rechtsprechung und Wohltätigkeit aufrechtzuerhalten. Von daher lag die moralische Rechtfertigung des Staatswesens und Königtums in dem Schutz der Armen und Schwachen vor der Willkür der Stärkeren und in der Fürsprache bei den Göttern. Eine gerechte Herrschaft lebt durch die Ma’at.
Auswahl weiterführender Literatur:
- Assmann, Jan, Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990.
- Assmann, Jan, Maât: l’Égypte pharaonique et l’idée de justice sociale, Paris 1999.
- Brunner, Hellmut, Altägyptische Religion: Grundzüge, Darmstadt 1989 (2. Aufl.).